Rudolf de Crignis: Painting 99-01 Oel⁄Leinwand 152,4 x 152,4 cm, 1999 Auf die Frage eines Interviewers, warum es ihn immer wieder nach Manhattan ziehe, antwortete der Schriftsteller Max Frisch, weil in New York alle Geschichten möglich seien; niemand kenne diese Stadt, auch jene nicht, die da geboren und aufgewachsen sind. Ähnlich muss auch de Crignis, der Mitte der 80er-Jahre seinen Wohnsitz von Zürich nach New York verlegte, die Metropole als Ort erfahren haben, der es dem Künstler ermöglichte, zu sich selber zu finden. In den frühen 70er-Jahren hatte der Winterthurer mit konzeptuellen Ansätzen, mit Fotografie und Performances experimentiert. Nachdem er 1984 zunächst ein Stipendienjahr in der amerikanischen Metropole zubrachte, verlegte er bereits wenig später Wohnsitz und Arbeitsplatz nach Manhattan. Mit der Übersiedlung konzentrierte sich seine Arbeit zunehmend auf eine ungegenständliche, formal und farblich reduzierte Malerei. 1996 schliesslich entstanden die ersten Quadrate in Ultramarin, denen de Crignis' Schaffen bis in die jüngste Zeit verpflichtet ist. Bei ihnen geht es in erster Linie um die Autonomie des Mediums, um die Befreiung der Farbe von Abbildfunktionen und semantischen Verknüpfungen. Die primäre Eigenschaft des vorliegenden Gemäldes 99-01 ist eine grosse homogene Fläche in Blau, deren Masse am menschlichen Körper orientiert sind. Die Seitenlängen des Quadrates von 152.4 cm (60 Zoll) entsprechen den ausgestreckten Armen, während sich auch die ideale Betrachter- distanz in diesem Rahmen bewegt. Denn weder ganz aus der Nähe, noch von weiter weg betrachtet ist das Gemälde als grosses Ganzes und gleichzeitig in seiner Differenziertheit erfahrbar. Für die Wirkung der Farbe sind Lichtstärke und Lichtqualität entscheidend. Erscheint der Farbauftrag einmal undurchdringlich und abweisend, zeigt er sich ein andermal vom Grund her leuchtend und quasi transparent. Gleich bleibt sich jedoch der Umstand, dass das Auge keinen Halt findet, keine fassbare Tiefe, aber auch keine Oberflächenstruktur, der es optisch folgen könnte. Der Blick wird vom perfekten Monochrom auf den Betrachter zurückgeworfen, wobei sich der Raum zwischen Betrachter und Tafel als Resonanzraum erweist, in dem sich der eigentliche Gehalt des Gemäldes konstituiert. Das Wesen der monochromen Malerei de Crignis', so wird verschiedentlich betont, liege in der Autonomie des Mediums Malerei. Einer kritischen Analyse mittels der Wortsprache müsse sich ein solches Werk folglich verschliessen. Diese Kunst fordert denn die intensive sinnliche Wahrnehmung durch den Betrachter, die ihrerseits im meditativen und hingebungsvollen Akt des Malens seitens des Künstlers ihre Entsprechung hat. Dieser malt sein Werk an der Wand, wobei für die grossen Bildformate die Spannweite der Arme massgebend ist. In einem Zug werden die Horizontalen von links nach rechts und wieder zurück gezogen. Dann wird das Bild um 180 Grad gedreht und derselbe Vorgang in der Vertikalen durchgeführt. Das Bild bleibt ständig in Bewegung, damit die dünne Farbe nicht von der Leinwand tropft. Im Abstand von einigen Tagen wird derselbe Akt noch mehrmals wiederholt. Für de Crignis sind depth (Tiefe), light (Licht), surface (Oberfläche), space (Raum) und blue (Blau) die Begriffe, mit denen er seine Arbeit definiert. Er spricht auch von Farbarchitektur. Dem Künstler geht es darum, Tiefe im Bild durch rein malerische Mittel zu erreichen, eine Tiefe, die sich nicht der traditionellen Perspektive und auch nicht der Gegenüberstellung verschiedener Farben mit unterschiedlicher Tiefenwirkung bedient. Dies geht er einerseits strukturell an, indem er seine Bilder aus zahlreichen dünn aufgetragenen Farbschichten über einem weissen Kreidegrund aufbaut. Dabei ist die porzellanartige Leinwandgrundierung wichtiger Teil der Malerei und an den Seitenprofilen gut erkennbar. Anderseits zielt de Crignis auf eine perzeptionelle Tiefe, auf Raumwirkung mittels Licht. Zu diesem Zwecke kombiniert er das Ultramarin mit anderen Farbtönen - im Gemälde 99-01 sind es Royal Blue und Cobalt Violet Light. Die einzelnen Farbschichten erzeugen nun mithilfe des Lichtes feinste optische Farbschwingungen, durch die sich die scheinbar identisch blauen Werke de Crignis' voneinander unterscheiden. Ultramarin ist für de Crignis denn auch nicht eine Farbe, sondern ein Filter, um Licht und Raum sichtbar zu machen. Rudolf de Crignis gehört zu einer losen Gruppe von Künstlern, die unter dem Etikett Radical Painting seit den frühen 80er-Jahren eine Auffassung von Malerei vertreten, die sich auf die Wurzeln (radices) oder das Wesen der Malerei konzentrieren. Den theoretischen Unterbau lieferten Marcia Hafif und Joseph Marioni, zu denen de Crignis seit seiner Übersiedlung nach Amerika eine respektvoll freundliche Beziehung pflegt. De Crignis' Anliegen sind jedoch weniger theoretischer, als vielmehr sinnlich-mystischer, im besten Sinne romantischer Natur. Karin Gimmi Literaturauswahl: - Regel und Abweichung - Schweiz konstruktiv 1960-1997, Ausst.-kat. Haus für konstruktive und konkrete Kunst Zürich, Zürich 1997. - Rudolf de Crignis, Ausst.-kat. Kunsthalle Winterthur (mit einem Text von Beat Wismer), 1995. - Rudolf de Crignis. Bilder - Paintings 1989-1990, Ausst.-kat. Stiftung für konstruktive und konkrete Kunst Zürich (mit Textbeiträgen von Roman Hollenstein und Margit Weinberg Staber), Zürich 1991. - Rudolf de Crignis. One painting, Ausst.-kat. Gallery S65 (mit einem Text von Sabine Müller), Aalst 1998. |