Beat Wismer
 
MALEREI, SO VERSTANDEN, IST EINE EINSAME ANGELEGENHEIT. (English)

Stichworte und Bemerkungen zur Arbeit von Rudolf de Crignis

Rudolf de Crignis ist ein radikaler Maler. Die einfache Behauptung mag banal 
erscheinen, dennoch möchten wir auf ihr am Beginn dieser Anmerkungen 
insistieren und sie auch bewusst unausgezeichnet in ihrer Ambivalenz belassen 
- als sehr allgemeine Aussage einerseits, als assoziationsstiftender Hinweis 
auf jene, verallgemeinert und zu vereinfacht gesagt, monochrome Malerei 
anderseits, die seit 1984 mit dem Etikett Radisal Painting versehen wird. Ein 
Spezifikum von radikaler Malerei liegt darin, dass sie mit Nachdruck auf der 
Autonomie ihres Mediums gegenüber der Wortsprache beharrt und sich jener 
gegenüber weitgehend unzugänglich verhalten möchte, dass sie ihre Intentionen 
vielmehr zuerst in der sinnlichen Betrachtung erfüllt sehen möchte. Einer der 
fundiertesten Theoretiker von Radical Painting, der amerikanische Maler 
Joseph Marioni, betont in seinen Schriften und Gesprächen immer wieder die 
besondere Rolle des Betrachters gegenüber reduziertester Malerei, und wenn er 
schreibt, dass Malerei ihrer Natur gemäss ein Erlebnisort der Einsamkeit sei, 
so ist mit Malerei neben ihrer Herstellung durch den Maler im Atelier immer 
auch ihre Rezeption durch den Betrachter in der Ausstellung gemeint. Obwohl 
das Verhältnis von analytischer Wortsprache und radikaler Malerei, d. h. von 
auf das ihr Wesentliche reduzierte Malerei, immer wieder als schwierig 
beschrieben und oft geradezu als Mesalliance betrachtet wird, ist die 
Literatur über die radikale Malerei mittlerweile ins kaum noch Überblickbare 
angewachsen. Mit den folgenden Bemerkungen wollen wir uns auf die Arbeit an 
der Malerei von Rudolf de Crignis konzentrieren. Wir verfolgen damit nicht 
die Absicht, die Literatur zur radikalen Malerei wesentlich zu erweitern.

Rudolf ge Crignis ist kein Theoretiker, und seine Malerei ist nicht die 
Visualisierung oder gar lllustration irgendeines theoretischen Programms. 
Seine Malerei ist vielmehr die immer wieder versuchte Annäherung an eine 
innere Vorstellung, die wesentlich

bildhaft ist und die sich sprachlich kaum umschreiben lässt. Die Ausführungen 
des Malers selbst zu seinem Schaffen sind auf eine besondere Art - ebenso 
bestimmt wie vage, präzis und, ihm durchaus entsprechend - knapp. Sie 
beziehen sich zur Hauptsache auf das leichter Sagbare, auf den beschreibbaren 
Prozess des so absolut reellen Auflbaus seiner Malerei also. Bei meinem 
Besuch in seinem Atelier in New York im letzten Winter übergab er mir ein 
Blatt mit den lexikalischen Definitionen zu fünf für seine Arbeit zentralen 
Begriffen, darauf hatte er die jeweiligen Aspekte der Definition, die seine 
Arbeit nicht substantiell betreffen, durchgestrichen (aber dennoch lesbar 
belassen). Die Begriffe sind nicht alphabetisch geordnet, sie stecken einen 
Ort zwischen depth/Tiefe und light/Licht ab, und sie bezeichnen, mit Ausnahme 
von surface/Oberfläche, durchwegs Immaterielles.

Mit dem zuerst und dem zuletzt angeführten Begriff wird das Ziel angegeben, 
dem sich de Crignis mit seiner Arbeit annähern will, die dazwischen 
aufgezählten Begriffe surfaselOberfläche, blue/blau und spase/Raum benennen 
eher die Mittel, die zur Überführung der Vorstellung des inneren Bildes ins 
Gemälde eingesetzt werden. Als Maler geht es de Crignis darum, Tiefe im Bild 
durch rein malerische Mittel zu erreichen, es geht also nicht an, eine 
illusionistische Bildtiefe durch die Tricks der Perspektive oder durch die 
Kombination verschiedener Farben mit je unterschiedlicher Tiefenwirkung 
herzustellen. Die Tiefe des Bildes wird mit mehreren Schichten Blau über 
einen strahlend weissen, lichthaltigen Kreidegrund aufgebaut. Vom tiefsten 
Grund bis zur obersten Aussenhaut wird beim Auflbau der Malerei über jede 
blaue Fläche eine lineare Zone in Schwarz aufgelegt, bei den unteren 
Schichten quasi eingeschoben, sie hat Raum zu schaffen zwischen den Flächen; 
die mit feinstem Pinsel aufgetragenen Linien aber, noch nass, kaum gezogen, 
werden mit breiter Bürste wieder vertrieben. Dadurch wird ein hoher Grad an 
Transparenz realisiert, die oberste Fläche präsentiert sich wie eine Membrane 
oder eine Haut, sie beginnt mit den darunter liegenden, getrennt 
aufgetragenen Schichten zu interferieren und als Bildfläche fein zu vibrieren 
und leise zu klingen. (Ähnlich sind die überaus feinen und ~~urückhaltenden 
Bleistiftzeichnungen. aufgebaut, und auch ihre Bildwirkung ist, obwohl auf 
alle Farbe verzichtet wird, vergleichbar: Was bei den Gemälden das in Schwarz 
aufgetragene und wieder vertriebene Linienfeld bewirkt, leistet hier die 
Überarbeitung des zart Gezeichneten

durch den Radiergummi. In einem Prozess des Zudeckens und Wegnehmens werden 
auf dem Papier, an der schieren Grenze zur Unsichtbarkeit, Fläche und Linie 
in ein vibrierendes Verhältnis gebracht.) Der Betrachter ist als sehendes, 
sinnlich wahrnehmendes Individuum herausgefordert, er hat sich vor dem Bild, 
das gerade dadurch eben auch Bildobjekt ist, wie vor einem Körper oder einer 
Skulptur zu bewegen: Nur so wird sich ihm die Malerei in ihrem ganzen 
Reichtum eröffnen, nur so wird es ihm gelingen, einen Blick hinter den 
Spiegel zu werfen.

Mit seiner delikaten und reich differenzierten Malerei - reich differenziert 
im Rahmen eng gesteckter, reduzierter Prämissen gelingt es Rudolf de Crignis, 
das unerschöpfliche Potential der in unserem Jahrhundert mehrfach totgesagten 
Malerei überzeugend nutzbar zu machen. Nur eine vorschnelle Betrachtung kann 
mit der Aufzählung der monochromen Pioniere von Rodtschenko und Malewitsch 
bis zu Ad Reinhardt und - in unserem Fall wohl mit besonderem Nachdruck - 
Yves Klein behaupten, die Möglichkeiten einer radikal autonomen und 
reduzierten Malerei seien damit abgehakt: Eine solche Ansicht verkennt 
undialektisch, dass das je behauptete Ende auch einen Neuanfang beinhaltete 
und den Weg zu einem vertieften Ausloten von bislang unbekannten malerischen 
Möglichkeiten erst eröffnete. Es gibt in unserem Jahrhundert die rasend 
beschleunigte Expansionsspirale der Kunst, die in immer neue Territorien 
vorgedrungen ist, es gibt aber auch jene andere Spirale, die immer weiter in 
die Tiefe dringt. Hier wirken Künstler, und zu diesen gehört Rudolf de 
Crignis, die sich nicht damit abfinden wollten, dass das Projekt der 
abstrakten Malerei vorzeitig, will sagen: unvollständig ausgeschöpft, 
aufgegeben werde. Solcherart betriebene Malerei verlangt aber eine 
Betrachtung, die bereit ist, die Anstrengungen und das Abenteuer des Sehens 
mit den eigenen Augen auf sich zu nehmen und einzugehen. Denn, wie gesagt: 
Über die Sprache kann der Zugang zu dieser Malerei mit ihren 
Differenzierungen an den Grenzen der Wahrnehmbarkeit (und damit auch der 
Reproduzierbarkeit) nur sehr bedingt eröffnet werden. An Informationen birgt 
de Crignis Malerei wenig, um so mehr aber an sinnlicher Empfindung und an 
Schönheit. Was die Schönheit sei, möchten zwar auch wir nicht definieren; 
immerhin jedoch hätten wir, wie damals Goethe, die Möglichkeit, dem danach 
Fragenden zu antworten: "Aber ich kann es Ihnen zeigen!"