Jens Peter Koerver



Rudolf De Crignis bei S 65 in Köln

Sehen heisst beteiligt sein

Wer mit dem in New York lebenden Schweizer Rudolf De Crignis (*1948)
Malereien in brillantem, leuchtenden, sich jenseits der Bildfläche zu 
weiträumigen Farbsphären öffnenden Blau verbindet, wie sie in der 
Artothek im Sommer 2001 zu sehen waren, wird von seiner ersten Kölner 
Galerieausstellung bei S 65 überrascht sein. Der Eingangsraum dieser 
"Malerei" überschriebenen, angenehm grosszügigen Präsentation ist 
einer Auswahl luzider Papierarbeiten und zwei quadratischen grauen Bildern 
vorbehalten; in der sich anschliessenden Halle sind drei grössere und eine 
kleinere blaue Arbeit zu sehen. Aber auch in diesen Bildern erscheint das 
sich in jedem Werk anders artikulierende Blau etwas verschlossener, 
stofflicher, sind diese Malereien verglichen mit zurückliegenden weit 
stärker als Dinge im Raum gegenwärtig.
 
De Crignis gelingt mit diesen neuen Arbeiten, die bei S 65 zum ersten Mal 
überhaupt zu sehen sind, eine überzeugende Erweiterung, eine 
Akzentverschiebung in seinem Werk, ohne mit dem bisher entstandenen 
zu brechen. Die nach wie vor aussergewöhnliche Intensität seiner Bilder, 
ihr ganz eigenes Farblicht entsteht durch die überlagerung zahlreicher, 
jeweils die ganze Bildfläche überziehender Lasuren, die über einem das 
Licht reflektierenden weissen Kreidegrund nach und nach aufgetragen werde. 
Die sichtbare Bildfarbe resultiert aus der Verbindung und Durchdringung 
verschiedener Farben, in den neuen Arbeiten aber ist sie Ergebnis der 
Reibung von einander fremden Tönen. So nehmen in einer der grossen 
blauen Malereien zitronengelbe und silberne Schichten dem in allen blauen 
Arbeiten verwendeten Ultramarin alle raumstiftenden Energien und lassen 
einen hart wirkenden, ungewohnt flachen Bildton entstehen.
  
Die beiden grauen Bilder verdanken ihre spezifisches Kolorit dem
Zusammenspiel komplementärer Farben, Orange und Blau bzw. Grün
und Rot treffen in ihnen aufeinander und ergänzt um weitere Bunttönen 
zeitigen sie zwei in Charakter und Erscheinung höchst unterschiedliche 
Artendes Grau. Zeigt die eine schon bald einen vollkommen ungreifbaren, 
transparenten, vor dem Grau schwebenden Farbhauch, entbirgt so die in ihr 
aufgehobene Farbe ein Stück weit und antwortet dem fragenden 
Betrachterblick, so gibt sich ihr Gegenstück verschlossener. Erst mit Zeit 
lässt sie als vorsichtige Andeutung etwas von ihrer Farbigkeit mehr 
vermuten als sehen und doch ist auch in diesem ungleich spröderen der 
grauen Bild die dort verborgene Farbenergie spürbar.
 
Nur nach und nach werden die Bilder De Crignis sichtbar, so wie sie auch 
sukzessive entstehen. Man muss Zeit mit ihnen verbringen, um etwas von 
ihrer Fülle, ihrem Reichtum wirksam werden zu lassen. Alle Eigenheiten 
des Bildes, seine Dichte oder Offenheit, sein Gewicht, seine Nähe oder 
Ferne wollen bemerkt, eine Position zu jeder Malerei gefunden werden. 
Seine Wahrnehmung schliesst auch die eigenen emotionalen und geistige 
Bewegungen, Körperempfindungen, das ganze eigene Beteiligtsein mit ein. 
Solches Wahrnehmen ist keine Vergewisserung, sie führt nicht zu 
abschliessendem Erkennen sondern ist ein stetes, immer wieder von neuem 
beginnendes, allmähliches Entstehen von Sichtbarkeit, einer volleren Wirklichkeit. 
- Belohnt wird, wer hinsieht, sich Zeit lässt. 
(bis 08.06.02) 

Geschrieben für den Kölner Stadtanzeiger, June, 2002.